Literatur-Tipp: Ein Banker steigt aus und wagt ein neues Leben
Vielleicht eine gute Motivation zum Durchhalten der Vorhaben für das Jahr 2012 ist die Geschichte von einem, der auszog, das Leben zu lernen: „Über die Berge zu mir selbst“ von Rudolf Wötzel ist die packende Geschichte einer radikalen Neuorientierung, die Geschichte eines Menschen, für den Erfolg, Luxus und Prestige selbstverständlich waren und der sich aus freien Stücken zum Ausstieg und zur Verwirklichung eines neuen Lebenskonzeptes entschloss.
Warum tut der sich das an? Er hat doch alles, er hat’s geschafft! Rudolf Wötzel, einst Deutschlandchef der Sektion Mergers & Acquisitions bei der globalen Investmentbank Lehman Brothers, kündigt seinen hoch bezahlten Job, packt seine Sachen und überquert die Alpen: 1.800 Kilometer, 120 Etappen, viele davon hochalpin, 129 Gipfel, darunter 33 Viertausender und 65 Dreitausender. Heute ist er freier Schriftsteller, hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet und lebt in den Schweizer Alpen.
Schon vor dem Banken-Crash deutete sich bei Wötzel eine Art persönlicher Crash an. „Erst war es nur ein flüchtiger Gedanke gewesen, der vor einigen Wochen aus dem Nichts auftauchte, … kehrte zurück, zaghaft zunächst, … in immer kürzeren Abständen.“ Dann kaufte er in der Buchhandlung eine Landkarte … Im Buch ist diese Entwicklung beschrieben, unterbrochen wird Wötzels Reise immer wieder von Rückblicken, die seine neuen Erfahrungen untermauern. Rein technisch sind diese Rückblicke kursiv gedruckt und heben sich dadurch optisch ab. Die Abgrenzung wird zudem verdeutlicht dadurch, dass in jenen Sequenzen ausschließlich von Herrn W. die Sprache ist. Der Ex-Banker in seinem neuen Leben spricht in der Ich-Form in geraden Lettern.
Gut, er zieht also mit einer Kreditkarte los und wählt nicht das weit entfernte Asien als Reiseziel, wie die meisten. Was zunächst etwas befremdlich wirkt, entwickelt sich im Laufe der ersten fünfzig Seiten zu einer Motivation, die der Leser in sich spürt. Ohne Training, ohne Handy und ohne Erfahrung könnte für Leute aus unseren Breitengraden eine solche Selbstfindung auch schnell mal zu einem Horrortip werden.
Wötzel hat wohl nicht umsonst mit einem Augenzwinkern geschrieben, dass er sich wie Hannibal fühlte – Hannibal wird bei seiner Alpenüberquerung auch das damalige Gourmetessen erhalten haben. So ist anfangs noch von dem Herrn W. die Rede, der seine Assistentin bittet, den Wäschereiservice auf die noch anzunähenden Anzugknöpfe aufmerksam zu machen. Wer keinen Bezug mehr zum ganz normalen Alltag hat, hat es eben nicht geschafft.
Wötzel nimmt den Leser Schritt für Schritt mit aus seiner alten Welt hinüber in die neue. Und er macht das auf sympathische Weise. Die Ehrfurcht, beispielsweise vor dem Großglockner, dessen Gipfel er erklimmen will, entlockt ihm zunächst ein Banker-Gleichnis: „Im Angesicht dieses Bergriesen fühle ich mich wie ein Sparkassenlehrling im Handelssaal der Frankfurter Börse. Ich habe nur eine vage Vorahnung davon, was mich erwartet.“ Mit kleinen Unterbrechungen aus der modernen Welt, die ja nicht automatisch verschwindet, nur weil man Selbstfindung in den Bergen betreibt, gelingen Wötzel herrliche Beschreibungen der Natur, der Bergwelt, der Menschen, die dort leben und die ihm zeigen, dass es Einfach-Nur-Glücklichsein auch ohne goldene Kreditkarte gibt.
Neben der Alpenüberquerung bewältigt Rudolf Wötzel in dem Buch „Über die Berge zu mir selbst“ eine weitere Gratwanderung: Er schafft es schließlich, auch Menschen mitzunehmen, die anfangs skeptisch sind, denen nun aber klar ist, dass man einfach auch nur mal Luft holen und abschalten sollte und abwarten, was dabei herauskommt. Zudem ist es ein Buch, in dem alles seinen Platz hat: das reale Leben, die Natur, Humor … Einfach lesenswert!
Rudolf Wötzel
Über die Berge zu mir selbst
496 Seiten, zahlreiche Fotos
ISBN 978-3-7787-9208-7, Integral Verlag
Preis: 19,95 Euro